Warum Helfen nicht immer Spaß macht
ASTHEIM (ml). Es ist mittlerweile mitten in der Nacht. Der Umzug ist
beinahe schon vergessen, noch immer sind alle beteiligten DRKler
erstaunt über die Plötzlichkeit, mit der der Großeinsatz erforderlich
wurde, und einem Teil der Gesichter sieht man bereits an, daß sie über
einiges, was an diesem Tag passiert ist, noch einmal nachdenken werden.
Der ACA hat dankenswerterweise eine Runde Pizza spendiert. Kurz
bevor sie eintrifft, müssen wir mit dem Rettungswagen 99/83 ein
weiteres Mal in die Klinik. Ein ziemlich junger Mann, natürlich ist die
Ursache einmal mehr der übermäßige Alkoholkonsum. Auf dem Weg ins
Krankenhaus versucht er mehrfach, sich zu übergeben, hängt zum Schluß
einfach den Kopf in die Nierenschale und schläft ein. Wir wecken ihn
mehrfach, bis wir in der Klinik sind. In der Notaufnahme empfängt man
uns mit leicht gestreßtem Blick. Wir haben Glück - die
Fahrzeugbesatzungen vor uns berichteten von langen Diskussionen über
die Frage, warum wir denn genau in dieses Krankenhaus fahren mußten und
nicht in das andere ...
Wir sind bemüht, die Spannung nicht noch weiter ansteigen zu lassen,
und helfen beim Umbetten des Patienten, assistieren noch zwei Mal,
während der Patient erbricht, und verabschieden uns dann.
Zurück am Bürgerhaus stellen wir fest, daß einige Kollegen die von
uns bestellte Spezialpizza (extra scharf) verwechselt und bereits zur
Hälfte gegessen haben. Macht nix - Pizza Hawaii ist ja auch lecker ...
An den brennenden Lippen der KollegInnen fühlen wir uns aber nicht
schuldig.
Nach dem Essen heißt es "Zelt abbauen". Die übliche Routine -
Material einpacken, in der vorgeschriebenen Reihenfolge in den
Gerätewagen verladen, Zelt auskehren, Beleuchtung und Heizung abbauen
und verstauen, Luft absaugen, Zelt zusammenlegen - verläuft ohne
Zwischenfälle.
Bevor wir jedoch den fertigen Packsack in den Gerätewagen wuchten
können, ruft irgendjemand etwas von einer Schlägerei. Zwei Kollegen
streifen sich bereits Gummihandschuhe über und ergreifen einen
Notfallkoffer, bewegen sich vorsichtig in die Richtung des Tumults.
Dann sind die Streitenden auch zu sehen: Einer der Kontrahenten ist
bereits zu Boden gegangen, der andere ist in gebückter Haltung neben
ihm, schlägt immer wieder mit angewinkeltem Arm hart und brutal auf den
Liegenden ein. Um die beiden herum feuert eine Meute das Ganze an. Mein
Puls geht schneller. Eines der Dinge, die man als Rotkreuzhelfer in den
zahlreichen Ausbildungen immer wieder gesagt bekommt: Der Eigenschutz
geht vor. Man begibt sich nicht in direkte Gefahr, weil man dann unter
Umständen niemandem mehr helfen kann, sondern selbst zum
Hilfsbedürftigen wird, andere Einsatzkräfte bindet, die dringend
gebraucht würden. Die Maßgabe bei einer Schlägerei ist also: Halte dich
raus, warte, bis das Schlimmste abgeklungen ist, und hilf dann den
Beteiligten.
Der junge Schläger vor mir hat vom Prügeln genug, geht nun dazu
über, auf den Liegenden einzutreten. Immer wieder landen Tritte in
Bauch, Unterkörper, den Nieren. Mir reicht es. Ich brülle den Schläger
an, renne auf ihn zu. Nur kurz denke ich darüber nach, was wohl
passiert, wenn sich jetzt die ganze Meute auf mich stürzt anstatt auf
den hilflosen Verletzten. Dann springen die jungen Kerle auseinander.
Der Schläger schreit mich an, erzählt etwas davon, daß der andere ja
seinen Bruder angegriffen habe. Ich erwidere - immer noch schreiend -
daß mir das egal ist, daß man einen Liegenden nicht tritt.Mittlerweile
hat das Opfer sich wieder aufgerappelt. Zahlreiche Schnitte und eine
Platzwunde im Gesicht lassen Blut über das T-Shirt laufen, aber der
junge Kerl hat nur eines im Sinn: Sich rächen. Wie in einem schlechten
Film umkreisen die beiden einander, angefeuert von der einen Hälfte der
Umstehenden, die andere Hälfte versucht, die Situation zu beruhigen.
Ein Kollege erzählt, daß die Polizei unterwegs ist.
Nach und nach klingt die Aggression ein wenig ab, der junge Mann
läßt sich widerstrebend zum Rettungswagen führen, weigert sich aber
einzusteigen. Nach einer kurzen Diskussion wendet er sich ab und
verschwindet. Mit einem Mal taucht aus allen Richtungen Polizei auf.
Die Lage hat sich längst beruhigt, man erkundigt sich, was vorgefallen
ist, erhält den Hinweis auf die Fluchtrichtung der Streitenden, und nur
kurze Zeit später sehen wir den jungen Mann wieder am Rettungswagen,
dieses Mal in Begleitung zweier Polizisten. Wir erklären ihm, daß er im
Krankenhaus auf innere Verletzungen untersucht werden muß. Er will
nicht, spricht von Freiheitsberaubung, verlangt, seinen Anwalt anrufen
zu dürfen. Dr. Knut Marder erläutert der Polizei und dem Verletzten,
daß es ein Risiko ist, ihn ohne Untersuchung gehen zu lassen, daß die
Untersuchung nur im Krankenhaus durchgeführt werden kann, und daß wir
das Risiko nicht auf uns nehmen können, ihn ohne Untersuchung gehen zu
lassen.
Der junge Mann wird ausfällig. Idioten sind wir und schlimmeres. Er
will nur nach Hause, zu seiner Freundin. F***** will er, sonst nix, und
dann wendet er sich an eine unserer Rettungsassistentinnen: "Bl** mir
doch einen, Du F***e!"
Wir entscheiden uns, daß es besser ist, wenn er von zwei Männern ins
Krankenhaus begleitet wird. Die Kollegin verläßt das Fahrzeug, die
Polizei erklärt, daß sie uns folgen werden und wir sofort anhalten
sollen, wenn der Patient Schwierigkeiten macht.
Netterweise verzichtet der Mann während der gesamten Fahrt darauf,
uns körperlich anzugreifen. Verbal hält er sich indessen nicht zurück.
Ich "Neger" soll ihm was zum Blutabwischen reichen, als ich es tue,
will ich mich seiner Ansicht nach "einschleimen".
Ob ich das hier beruflich mache, will er wissen.
"Nein", erwidere ich.
"Aha, nebenberuflich?"
Wieder schüttle ich den Kopf. "Nein, ehrenamtlich."
"Ehrenamtlich also?" Er holt grinsend Luft. "Gut, das war jetzt hier
Dein letzter Abend. Ab morgen bist Du gar nix mehr, dafür sorge ich".
Ich erfahre, daß er "prominent" ist, schon drei Polizisten in einer
anderen Stadt hat vom Dienst suspendieren lassen. Ganz wichtig ist er,
und wir alle können uns warm anziehen wegen dem, was wir ihm hier
bieten. Idioten sind wir sowieso.
Endlich sind wir in der Klinik. Wieder die Notaufnahme, aber ein
anderes Team. Eines, das unsere Schilderung des Unfallherganges nicht
hören will, stattdessen an die HNO-Abteilung verweist wg. der
Schnittwunden im Gesicht. In der HNO-Abteilung wundert man sich, weil
der Grund für die Einlieferung ja der Ausschluß von inneren
Verletzungen ist, aber der Bereitschaftsarzt scheint endlich jemand zu
sein, den der junge Mann akzeptiert. Er verlangt, gehen zu dürfen, läßt
sich über die Risiken belehren, unterschreibt einen Zettel, daß er auf
eigenen Wunsch von einer Untersuchung absieht, und wünscht uns noch
einen "beschissenen Abend". Dann verschwindet er - zunächst in die
falsche Richtung.
Wir kehren ins DRK zurück, mittlerweile ist der Einsatz beendet. Kopfschüttelnd lassen wir das Ganze noch einmal Revue passieren. Die vielen jungen, teilweise erst fünfzehnjährigen Alkohol-Konsumenten, die wir vor uns hatten, die Schnelligkeit und Aggressivität, mit der getrunken wurde, die Unverschämtheiten, die sich manch ein Kollege anhören mußte. "Ihr seid doch eh alle voll", unterstellt man einem Team, während es eine Schnittwunde verarztet. Hohn und Spott, weil wir Dienst tun, anstatt uns zu besaufen, sind ebenfalls an der Tagesordnung. Den Abschluß bildet dann der junge Mann, der Gegenstand dieses Berichtes war. Kein Wunder, daß manch einem das Lachen vergangen ist an diesem Tag. Aber wir alle haben einmal mehr gesehen, wie wichtig es ist, daß wir tun, was wir tun. Und dieses Wissen gibt uns das Lachen irgendwann wieder. Bis zum nächsten Mal.